Wiegands Warte Januar 2009
Vor ein paar Tagen wurden uns im Lenkungsausschuss eines großen Projektes wieder erstaunliche Ergebnisse präsentiert. Das Projekt wurde aufgesetzt, um Liquidität durch Bestandssenkung zu schaffen. Alle anderen Themen der Optimierung des Working Capitals (Forderungsmanagement etc.) waren abgearbeitet. Doch darauf, das Working Capital durch den Abbau von Beständen auf allen Produktionsstufen zu verringern, kam man erst zum Schluss. Dabei ist der Hebel riesig und schwankt meist von 1:5 bis 1:8 – durch die Bestandssenkung lässt sich zwischen fünf- und achtmal soviel Liquidität schaffen. So auch in diesem Fall. Der Ansatzpunkt, die Durchlaufzeiten durch Pullsteuerung und Fließfertigung zu senken, ist einfach. Er reduziert die Durchlaufzeit um durchschnittlich 50-70 % und damit auch die Bestandsmenge um 50-70 %.
In diesem Fall lagen die einmaligen Effekte im zweistelligen Millionenbereich. Hervorragend also. Doch die Untersuchung der Abläufe – des Wertstroms – ergab noch erstaunlichere Ansätze. Die Durchlaufzeit eines Auftrages insgesamt betrug 3 Wochen, davon 2 Wochen im Auftragsabwicklungsprozess (eigentliche Prozesszeit: 3,5 Stunden) und 1 Woche in der Produktion bei 9,3 Stunden rein produktionsbedingter Zeit.
Der Vorschlag, ein Produktionssystem mit 3 Tagen Produktionszeit und 2 Tagen Auftragsabwicklungszeit aufzustellen, stieß auf große Begeisterung – vor allem im Vertrieb. Eine Woche statt drei Wochen Lieferzeit war ein unschätzbarer Wettbewerbsvorteil. Der Vertriebsverantwortliche war begeistert. Originalzitat: „Dann hole ich 25 % mehr Umsatz rein“. Dies war der Beginn, in diesem Unternehmen Mauern einzureißen, Silos zu schließen und das Prozessdenken nicht nur in der Produktion, sondern im ganzen Unternehmen, auch in den indirekten Bereichen, zu leben. Und das hat viel verändert.
Manche Mitarbeiter aus den sogenannten indirekten Bereichen bedenken nicht, dass sie ein Teil des Wertschöpfungsprozesses sind. In vielen Fällen – so auch in dem beschriebenen Unternehmen – hat der Controller das Selbstverständnis, „ohne mich würde das Unternehmen zusammenbrechen“. Dasselbe gilt für den Personaler, den Arbeitsvorbereiter, den Logistiker, den Einkäufer, den Konstrukteur, den Fertigungssteuerer. Alle sahen ihre Funktion an sich als notwendig an, nach dem Motto „ohne mich geht gar nix“. Heute wissen sie, dass sie ein Teil des Gesamtprozesses der Wertschöpfung sind und dass ihre Rüstzeiten und Liegezeiten genauso zum Erfolg oder Misserfolg des Unternehmens beitragen wie der eigentliche Produktionsprozess. Heute ist in diesem Unternehmen nicht nur die Produktion segmentiert, sondern auch die indirekten Abläufe sind ausschließlich auf den Kunden ausgerichtet.
Was hat das bewirkt? Die Effizienz des Auftragsabwicklungsprozesses ist um 30 % gestiegen und er wird schneller durchlaufen – in 1,5 Tagen anstatt 2 Wochen. Zudem sind die Kosten gesunken und die Qualität der Produktion- und der Geschäftsprozesse ist höher. Das Produkt wird jetzt innerhalb Kontinental-Europas standardmäßig in 3 Tagen geliefert. Auch der Fachkräftemangel konnte beseitigt werden. Der Umsatz stieg um 32 Prozent und steigt weiter. Die Kosten wurden im Verwaltungsbereich um 31% gesenkt und die Bestände sind weiter verringert worden.
Alles richtig gemacht also durch einen ganzheitlichen Ansatz ohne Rücksicht auf Königreiche, Silos oder andere Privilegien. Ausgerichtet auf die Wertschöpfung. Denn im Wettbewerb zählen nicht nur die Kosten, sondern die Wettbewerbsfaktoren des Business on Demand: die Verfügbarkeit, d.h. die Zeit von der Kundenbestellung bis zur Lieferung des Produktes an den Kunden, die Individualität, d.h. die Berücksichtigung der Kundenwünsche, sowie die Qualität der Produkte und der Prozesse bei geringsten Kosten und höchster Effizienz.
Bleiben Sie uns gewogen – bleiben Sie Lean.
Ihr Bodo Wiegand