Letztens war ich bei einem Unternehmen, da sagte mir der Geschäftsführer: „Herr Wiegand, Lean ist out – man spricht nur noch über Industrie 4.0“.
Nun, so hatte ich das noch gar nicht gesehen.
- Dann wäre ja Lean nur eine Modeerscheinung wie viele Management-Theorien gewesen.
- Dann müsste dieses Unternehmen ja schon Lean sein und alle Prozesse so gestaltet sein, dass keine Verschwendung mehr vorkommt.
Wenn also Industrie 4.0 Lean ablöst, würde man sich von der Philosophie verabschieden – Werte ohne Verschwendung zu schaffen.
Denn Lean heißt ja: Werte ohne Verschwendung schaffen.
Ich glaube nicht, dass das der Fall ist.
Genauso wenig glaube ich, dass es Unternehmen gibt, die so Lean sind, dass keine Verschwendung mehr in den Prozessen vorhanden ist. Wobei ich hier nicht nur von den eigentlichen Wertschöpfungsprozessen rede, sondern auch von den Neben- und Teilprozessen, z.B. in den administrativen, Service- oder Instandhaltungsbereichen.
Schauen wir uns die administrativen Bereiche an. Dort liegt die durchschnittliche Wertschöpfung in Deutschland bei 50%. Daran wird Industrie 4.0 nur wenig und wenn überhaupt, nur in den wertschöpfenden Bereichen optimieren können.
Das Gedankenmodell der Industrie 4.0 lautet: Schaffe das Internet der Dinge, vernetzte alle Maschinen mit den Produkten und beziehe die Menschen ein und schon hat man das perfekte, verschwendungsarme Produktionssystem.
Geht das – vielleicht – wenn, ja, wenn alle die Produkte, alle Schnittstellen und alle Prozesse darauf abgestimmt und ausgerichtet sind.
Dies sollten wir aus unseren Erfahrungen, z.B. mit SAP gelernt haben. Zu Zeiten der Jahrtausendwende gab es einen Run auf SAP, weil man glaubte, damit den indirekten Bereich optimieren und verschlanken zu können. Weit gefehlt. Wenn ich in SAP meine alten nicht optimierten Prozesse abbilde, dann wird auch nichts Besseres dabei rauskommen als bisher.
Das heißt, nicht mehr und nicht weniger. Wir müssen unsere Prozesse auf Industrie 4.0 ausrichten und zwar nicht nur die Produktionsprozesse, sondern auch die produktionsangrenzenden Prozesse, wie die administrativen, wie z.B. die Auftragsabwicklungs-, Instandhaltungs- sowie die Serviceprozesse.
Also Lean und Industrie 4.0 und nicht oder.
Genauso, wie viele mittlerweile erkannt haben, dass Six Sigma ohne Lean oder Lean ohne Six Sigma keinen Sinn macht, sondern sich beide ergänzen.
Denn zuerst schaue ich, welche Prozesse ich überhaupt brauche und in welcher Ausprägung und erst dann stabilisiere ich die benötigten Prozesse und mache sie mit der Hilfe von Six Sigma sicher. Für Industrie 4.0 brauche ich absolut sichere Prozesse, das heißt also auch zur Einführung von Industrie 4.0 brauche ich Lean und Six Sigma.
Aber das reicht immer noch nicht. Denn da fehlt noch mehr.
Wir müssen erkennen und dann akzeptieren, dass die Maschine bestimmte Dinge besser kann als wir. Nehmen wir als Beispiel den Autopiloten im Flugzeug. Daran haben wir uns gewöhnt und akzeptieren ihn.
Haben wir aber nicht alle ein komisches Gefühl, wenn eine Maschine unser Auto fährt? O.K., der Rechner bedient keine Handys während der Autofahrt oder kann durch etwas anderes abgelenkt werden. Doch Autofahren ist ein mehrdimensionales System, also eigentlich zu komplex für einen Rechner oder etwa nicht?
Nein, meine Damen und Herren, anscheinend nicht.
Gerade werden Minisatelliten im All getestet, die mit den Autos kommunizieren und das Verkehrsgeschehen leiten und Situationen vorausberechnen können – es darf nur kein Oldtimer kommen, oder? Und genau da liegt das Problem. Ich brauche sichere Prozesse und ich brauche den Menschen, der der Maschine vertraut und weiß, wann er eingreifen muss.
Und ich brauche Menschen, die Maschinen und Produkte entwickeln, die man mit dem Modell Industrie 4.0 effizienter und effektiver zusammenarbeiten lässt, das heißt, ich brauche Industrie 4.0 und Lean und Six Sigma und den Menschen als Teil des Gesamtsystems. Denn nur dann wird es uns gelingen, mit Industrie 4.0 effizientere und leistungsfähigere Produktionsprozesse zu gestalten, um unseren Traum vom Business on Demand und der damit verbundenen Losgröße 1 zu realisieren.
Dabei haben wir noch einen ganz wichtigen Teil der Industrie 4.0 noch nicht betrachtet. Das Produkt. Nur, wenn die Produkte der Industrie 4.0 an den Schnittstellen standardisiert und mit modularen Produktstrukturen ausgestaltet sind, werden sich die gewünschten Effekte einstellen.
Nur mit dieser Modularität lassen sich die Varianzen reduzieren und die Komplexität beherrschen. Haben wir den Glauben, die anscheinend immer größer werdende Komplexitäten mit Industrie 4.0 abbilden und beherrschen zu können, begehen wir einen großen Fehler. Nur wenn alles zusammen greift – Mensch, Maschine, Produkt und Prozess – kann das Modell Industrie 4.0 realisiert werden und helfen, die Lean-Philosophie „Werte ohne Verschwendung schaffen“ wirkungsvoll zu unterstützen.
Nur dann werden wir wirklich ernten können, was wir gesät haben.
Bleiben Sie uns gewogen – bleiben Sie Lean.
Ihr Bodo Wiegand